Wunderort Davos – Zurück in die Zukunft

Text Sebastian Lehr Bild Andreas Meyer
Geschichten

Egal, seit wie vielen Jahren du fährst, dort wird es dein erstes Mal sein

Die Gipfel, faszinierende Riesen, bizarre Felsen, liefern meinem kindlichen Gemüt Stoff für wilde Träume. Es ist 1998. Zum ersten Mal erlebe ich die schiere Größe, die fantastische Mächtigkeit unserer Erde. Dieses Erlebnis prägt meine Wahrnehmung. Bis heute.

Aus der Ausgabe 10.16

 
 

2016. Ich bin zurück, nach genau 18 Jahren. Die Karstlandschaft, kühl und distanziert, weckt Erinnerungen und mein Gehirn überflutet mich mit den verknüpften Emotionen. Intensiv, wie es sonst eigentlich nur Gerüche oder Musik vermögen. Doch etwas hat sich verändert: Die Unschuld meiner kindlichen Wahrnehmung. Damals hatte sie keinen Sinn für diese magische Anziehung. Scharfkantige und gleichzeitig verspielte Pfade, die meine Begierden wecken. Ohne zu zögern gebe ich mich dem Verlangen hin. Beginne zu treten. Fühle den kristallenen Wind. Erfahre, was es bedeutet, ein Mountainbike in die Freiheit seiner natürlichen Selbstbestimmung zu entlassen. Ich fahre seit zwei Jahrzehnten Mountainbike. Heute bin ich zum ersten Mal Mountainbike gefahren.

Davos Klosters liegt in Graubünden. Wilde Natur verbindet sich hier mit einer modernen touristischen Infrastruktur. Das klappt harmonisch, es drängt sich einem nicht unangenehm auf. Es ist die Heimat von Heidi und das Lieblingsziel der Schweizer selbst. Wer möchte, fährt zwischen Weinanbau und Gletschersteig nur einige Kilometer. Davos Klosters bildet, vor allem in Dingen Mountainbike, die Keimzelle des „Bündner“ Alpenkantons.

Ist der Waldboden zu feucht, kommen auch schon mal Holzplanken zum Einsatz. Sehr zur Freude der Mountainbiker.

"Egal, seit wie vielen Jahren du fährst - hier wird es dein erstes Mal sein, hier wirst du wirklich Mountainbiken."

Vielstimmig. Einig.
Konträr zu unserem gewohnten Verständnis eines Wirtschaftssystems, erlebe ich in der Region eine völlig neue Realität. Es gibt sie, auch in Mitteleuropa: Oasen einer gegenläufigen, einer funktionierenden gegenläufigen Wahrheit zur allgemeingültigen These des „homo oeconomicus“ – dem selbstbezogenen, rücksichtslosen Profiteur. Natürlich rein subjektiv, doch intuitiv wissend möchte ich behaupten, die Menschen in Bünden verbindet ein gemeinsamer Wertekanon: Ein Konglomerat aus Partnerschaftlichkeit, Kooperations- und solidarischer Einsatzbereitschaft. Und dies in einer Landschaft, die zwar bezaubert, aber gleichzeitig inhärent darauf hinweist, unzugänglich, exponiert, ja, potentiell gefährlich zu sein. Doch möglicherweise braucht es eben eine solche Demut lehrende Landschaft, um Menschen verschiedenster Interessenslagen für gemeinsame Projekte zusammenzuführen. Wir brauchen nicht länger zu träumen von einem alpinen Mountainbike-Eldorado. Rund um Davos ist es Wirklichkeit. Natürlich eingebettet zwischen Mensch – Natur, Biker – Wanderer, Sportler – Bergbauer, zwischen Goldrausch und der Hingabe an episches Trail-Vergnügen.
Was mich zu dieser utopisch klingenden Annahme führt, ist kein Resultat eines Interviews mit Davoser Tourismus- oder Marketingstrategen. Es ist eine einfache Trail-Begegnung, ein Gespräch, das, gerade, weil es spontan und unvorbereitet war, diese irreal klingende Realität als tatsächlich existent vermitteln konnte.

Trail. Hingabe.
Sein Name ist Stänz, seine Schaufel wirkt abgenutzt. Auf seinem T-Shirt prangt in großen Lettern „Trail Crew“. Ein leises Klingeln im Hinterkopf, doch mir wird erst beim zweiten Nachfragen klar, was „Trail Crew“ eigentlich bedeutet. Stänz ist eine von sieben Personen, deren Job darin besteht, das alpine Wegenetz in Davos Klosters für Mountainbiker fahrbar zu machen. Das gesamte Wegenetz – nicht einzelne ausgesuchte, für Biker freigegebene Trails. Blicken wir zunächst in die Historie: Es waren Jäger, römische Soldaten, Senner oder schlicht das Vieh, für die die Wege Infrastruktur und Arbeitsgrundlage waren. Später, um die vorletzte Jahrhundertwende, kam der Alpinismus, brachte Bergsteiger und damit die ersten freizeitorientierten Wegenutzer. Irrwitzig der Gedanke, die damaligen Wegarchitekten hätten bei ihrer Arbeit im 18. oder 19. Jahrhundert bereits an die zweirädrige Verwendung ihrer Pfade denken können. Deshalb sind über die Sommermonate eben diese sieben Personen täglich im Einsatz. Ihr Arbeitsgerät: eine Schaufel. Ihr Auftrag ist bereits bekannt und im Leitgedanken Graubündens enthalten: „alles fahrbar“… Wir folgen Stänz‘ ausgestreckter Hand. Der Trail traversiert Geröll, folgt leicht abfallend einer weitläufigen Wiese und verschwindet in der Ferne zwischen durchziehenden Wolkenfetzen. Er weckt Sehnsüchte.

Doch rekapitulieren wir chronologisch: Auf dem Beifahrersitz im Auto studiere ich die Singletrail Map 101. Eine Entscheidung: Der „Alps Trail“ soll es werden. Vielversprechend der Name und von der IMBA als „Epic Trail“ zertifiziert. In Abfolge von 40 km fortwährender Endorphin-Ausschüttung wird meine erste Bekanntschaft mit Davoser Boden sogleich zu einem metaphysischen Bike-Erlebnis. Der Trail startet am Jakobshorn auf 2.500 Metern. Dort oben, auf den ersten Metern, traf ich Stänz. Wir sprachen über seine Arbeit, doch erst jetzt bekomme ich eine Ahnung von den Bestrebungen, die die Trail Crew als ausführende Hand im Sinne der Vision einer gesamten Region verwirklicht. Respekt zollend werde ich mir über das Ausmaß ihres Tätigkeitsspektrums bewusst. Kurzum: „Haute Couture“ im Trailbau.

"Ein-tausend-drei-hundert. 1.300 km Biketrails kann man um Davos angeblich unter die Stollen nehmen."

Die Trail Crew in Davos kümmert sich um das gesamte Wegenetz und leistet vorbildhafte Arbeit.

Natürlich. Kultiviert.
In Graubünden befinden wir uns im deutschen Sprachraum. Doch Begriffe wie Pischa, Pizokels oder Wynegg, drei grundverschiedene Dinge, lassen erahnen: Weit vom Hochdeutschen entfernt haben wir uns in eine Region begeben, die von nördlichen wie südlichen Kulturkreisen geprägt ist, aber qua ihrer seit Jahrhunderten abgeschiedenen Lage wohl hauptsächlich im eigenen kulturellen Kochtopf mit Zutaten spielt. Dabei entstanden wahre Gaumenfreuden – solcher Intensität, dass mir beim Verspeisen der Weg zwischen Teller und Mund wie eine halbe Ewigkeit erscheint. Ich habe diese drei Begriffe nicht zufällig gewählt. Wir essen Pizokels, eine hiesige, sättigende Spezialität. Für mein in Sachen Haute Cuisine ungeübtes Auge eine Mischung aus Spätzle, Schupfnudeln und Gnocchi. Definitiv lecker, definitiv gehaltvoll. Stilvoll, aber doch das Richtige für ausgehungerte Biker.
Eingeladen sind wir ins Wynegg, ein Restaurant und Biker-freundliches Hotel in Klosters. Betrieben von drei jungen Männern, Freunde von Kindesbeinen an. Sie hatten den Mut, ihre Ressourcen in ein selbstbestimmtes Lebensprojekt zu werfen. Cedric, einer von ihnen, ist selbst begeisterter Biker, hier geboren und ein enthusiastischer Erzähler. Wer könnte uns besser mit Geheimtipps und dem neusten Bikers-Klatsch versorgen! Wir sprechen über viele Themen, verstricken uns abseits des Sports, es ist urgemütlich und die Liste auf dem Bierdeckel wird länger. Zuweilen braucht es den ungezwungenen Rahmen, um wirklich zu erfahren, ob eine Sache nur tatsachengetreu beschrieben oder mit Hingabe gelebt wird. Eines bleibt hängen: Pischa, das letzte der drei Worte. Der Pischa-Trail. Zuoberst ein fordernder Grat, doch in der Hauptsache ein abstrus-erlesener Flow-Pfad über Bergwiesen. „Ganz geil, also ganz geil, also hammergeil, also ich als Einheimischer steh da … ja, bin sprachlos, jedes Mal.“ Schlicht und doch eindeutig umschreibt Cedric den Weg von der Pischa-Bergstation über Hürli und Aberliboden nach Davos-See. Auf der Singletrail Map ist er nicht zu übersehen, parallel zum Flüela-Tal. Zu gerne würde ich jetzt schreiben: „Lest nicht weiter, lasst alles stehen und liegen, fahrt los und erlebt ihn!“

Magie. Sinn.
Beim nächsten Erwachen ein leichter Druck in der Kopfgegend; mir wird wehmütig klar: es ist unser zweiter und letzter Tag in Davos. Eine Entscheidung, dieses Mal: Gotschnabahn. Welche Worte soll ich wählen, um meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen? Ob der naturbelassene Trail über den Gotschnagrat oder die A-Line, eine perfekt gebaute Freeride-Strecke ab der Mittelstation – Davos ist: Trail-Traumland.
Wieder punktet die Destination mit Pionierdenken. Die aus dem Skibetrieb bekannten Markierungen Blau – Rot – Schwarz kennzeichnen die Freeridestrecke und ihre im Verlauf sich trennenden und wieder zusammenführenden Routen. Wir sind zu dritt. Drei Niveaus, drei Interessen. Kurze Testrunden noch vor dem Einstieg in die eigentliche Strecke erlauben es, die individuellen Fähigkeiten in Erfahrung zu bringen. Seine „Farbe“ zu wählen also gewissermaßen. Wir starten gemeinsam. Unsere Wege trennen sich. Sie vereinen sich. Wir erreichen gemeinsam die Talsohle und sind gemeinsam begeistert. Kein fauler Kompromiss. Individuell wurden wir weder zur Über- noch zur Unterforderung genötigt und doch verbindet uns ein gemeinsames Erlebnis.

"Der Pischa-Trail. Zu gerne würde ich jetzt schreiben: „Lest nicht weiter, lasst alles stehen und liegen, fahrt los und erlebt ihn!“"

Wir fahren ihn, ohne Pause. Vorangetrieben von der Furcht, im Stillstand würde die Realität zur Illusion unserer Vorstellung.

Abreise. Zögerlich vom Parkplatz anfahrend bleibt mein Blick an den in sich ruhenden bizarren Felstürmen hängen. Nah im Westen eine düstere Gewitterzelle. Es gibt Momente, da scheint die Energie zwischen Menschen gleichschwingend. Das Vorhaben unserer Abreise, plötzlich ist es lächerliche Fiktion. Welchen Grund gäbe es, nicht zu bleiben? Kurz vor fünf, kurz vor Betriebsschluss. Ich reiße das Steuer herum und dirigiere unser Auto zur Madrisa-Bahn. In der Vorahnung einer unwirklichen Begegnung steigen wir in die letzte Gondel. Beim Ausstieg Regen und ein Stillleben aus Bagger, Kran und Baustelle. Die Aussicht auf 200 Höhenmeter Schieberei bis zum Traileinstieg in Öbersass dämpft unsere Begeisterung. Ich beginne mich zu fragen, ob die Erwartungen, geschürt von vorangegangenen epischen Tagen, zu hoch waren? Ich möchte meine Mitstreiter motivieren. Doch unser Davos-Klosters-Erlebnis scheint plötzlich stumpf, die Hochstimmung belegt vom Schleier einer ernüchternden Realität.
Wir schieben. Es ist nass und kalt. Im Kopf ein Brummen. Ein Brummen? Es wird zu einem Dröhnen! Wir schrecken auf. Die Kapuzen weit im Gesicht, die Luft nebelverhangen, sehen wir zunächst nur Umrisse. Schnell nähern sie sich. Auf uns steuert ein Gefährt zu. Eine Pistenraupe? Im Sommer? Der Fahrer bremst und betrachtet uns skeptisch aus seinem gläsernen Führerhaus. Er steuert ein Fahrzeug, das wie die das Erzeugnis experimentierfreudiger Nasa- und Landrover-Ingenieuren anmutet. Ein Pickup-Moonrover. Ich sehe die Ladefläche. Der Blick des Fahrers trifft auf meinen, er versteht und gibt uns ein Zeichen, die Räder auf die Ladefläche zu hieven. Wir selbst klettern hinterher. Festgeklammert am Überrollbügel zum Schutz des Führerhauses beginnt eine wilde Fahrt. Schnell verstehe ich: Es braucht eine gewisse Geschwindigkeit, um Steilheit und Stein zu überwinden. Wir werden durchgeschüttelt. Der Regen prasselt uns ins Gesicht. Ein Ritt über Fels auf einem stählernen Bullen. Kein bisschen unangenehm. Unsere Motivation, die Endorphine, das Adrenalin, alles beginnt wieder zu fließen. Das Gelb der Bündner Wegweiser markiert unseren plötzlich auftauchenden Trail, den Weg in Richtung Zügenhüttli. Wir springen vom Gefährt. Packen unsere Räder, treten und rollen mit der gewonnenen Energie des Augenblicks in den Pfad. Er ist, wie alle in Davos Klosters, perfekt. Wir fahren ihn, ohne Pause. Vorangetrieben von der Furcht, im Stillstand würde die Realität zur Illusion unserer Vorstellung.
Erst im Tal halten wir inne. Die Luft ist geschwängert vom Geruch leichten Regens. An den nach Westen ausgerichteten Bergflanken das glühende Orange der versinkenden Sonne, dazwischen die Nuancen eines Regenbogens. Die Magie des Augenblicks verabschiedet uns. Vom Madrisa Trail. Aus Davos Klosters. Aus Graubünden. Dort, wo ich es nach zwei Jahrzehnten im Sattel zum ersten Mal getan habe. Mountainbike fahren.

Informationen:

Davos Klosters Tourismus
www.davos.ch
www.klosters.ch

Lage:
Davos Klosters liegt im Kanton Graubünden in der Ostschweiz. Gut erreichbar über die A13 bis Landquart und die Staatstraße 28.

Tourenplanung:
• Singletrail Map 101 Davos-Klosters
• GPS-Daten auf www.worldofmtb.de

Unterkommen:
• Hotel Wynegg AG
Landstrasse 205
CH-7250 Klosters
info@wynegg.ch
www.wynegg.ch

Grischa – DAS Hotel Davos
Talstrasse 3
CH-7270 Davos Platz
info@hotelgrischa.ch
www.hotelgrischa.ch

Weitere spezialisierte Bikehotels unter www.davos.ch

Guiding:
Eine Übersicht aller Guiding-Unternehmen sowie ihrer Angebote (z.B. Kids-Nachmittag jeden Donnerstag) findet sich hier:
www.davos.ch

Highlights:

- A-Line-Feeling ohne Jetlag: Statt nach Whistler mal eben nach Davos jetten und dort die Gotschna Freeride Piste hinunterfliegen
- Für Trailhungrige: 10.000 Höhenmeter Bahnentour (www.bahnentour.ch)
- Zum Abschluss der Trailsafari noch eine Runde Pumpen in Jenaz (Prättigäu) oder über die Dirtlines im Bikepark Färich Davos

Kombi-Bike-Urlaub: Jeden Tag werden mit „Davos Klosters Active“ zahlreiche Aktivitäten angeboten – und zwar gratis! Vom Alphorn-Kurs bis zum Stand Up Paddling auf dem Davoser See.

Mit der Davos-Klosters-Card sind ab einer Übernachtung sämtliche Bergbahnen gratis zu benutzen.

- Preiskracher.bike: günstige Pakete inkl. Hotel, Bergbahn und Biketransport

• Bike Shuttle Davos fährt individuell von 1.Mai bis zum 1. Schneefall für 5,- CHF p. P. Anmeldung unter +41 81 41 70 707

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