Das Gehirn ist darauf ausgelegt, unsere Umwelt zu klassifizieren. Es sortiert Wahrnehmungen in Schubladen ein, ordnet in klare Kontraste und Gegensatzpaare. Unser Denken funktioniert also gewissermaßen antipodisch, wir denken in Gegensätzen. Schwarz – Weiß. Erst Gegensätze erzeugen Spannung. Der Gegensatz ist, wenn man so will, das Erkennungsmerkmal des Alta Badia in Südtirol.
360° Gegensätze - Alta Badia
Die Ladiner
Steil aufragende, schroffe Felsen und sanfte, abgeflachte Almwiesen. Die Bewohner des Gadertals leben seit jeher mit diesen Kontrasten und die logische Konsequenz aus dieser Gegensätzlichkeit konnte nur die Einheit mit ihrer Umgebung und dem Ökosystem sein. Eine nachhaltige Lebensform, die sich den natürlichen Gegebenheiten anpasste. Während die Industrialisierung in leichter zugänglichen Tälern einen Wandel von der existenziellen, extensiven Landwirtschaft zur intensiven Raumnutzung vollzog und damit den über Jahrhunderte entstandenen Kulturraum veränderte, schirmten die geographischen Gegebenheiten die Ladiner von äußeren Einflüssen weitestgehend ab. Nach wie vor kann man überall im Gadertal den bewussten Umgang der Ladiner mit ihrer Kultur und das Verflochtensein mit ihrer Umgebung erkennen.
Farbe! Farbe!
Liegt man abends nach langer Fahrt endlich in der Badewanne, fällt der Blick durchs Fenster unvermeidlich das Lot zum exakt gegenüberliegenden Heiligkreuzkofel. Ist der Wettergott wohlgesonnen, verfolgt man, im Badeschaum plätschernd, ein spektakuläres Naturphänomen, dem die Dolomiten (unter anderem) ihren Weltruhm verdanken: die Enrosadira, das „Alpenglühen. Die Wallfahrtskirche Heilig Kreuz lässt sich auch gemütlicher per Sessellift erreichen, wir hingegen haben uns auf die Bikes geschwungen und im kleinen Weiler Valgiarëi schon 200 hm in den Beinen.
Wir lassen die runden Formen der Armentara Wiesen hinter uns und pedalieren in Richtung Heiligkreuzkofel. Je näher wir seinen bedrohlich aufragenden Wänden kommen, desto steiler scheinen sie sich zu erheben. Kein Wunder, dass sich darin einige Kletterrouten bekannter Alpinisten finden. Die, ebenso wie wir, das in eine Berghütte umgewandelte ehemalige Hospiz der Heilig Kreuz Kirche nutzten, ihre Kräfte durch hausgemachten Kaiserschmarrn oder Polenta mit Pilzen zu stärken. Hinter uns erheben sich nun fast senkrecht die schroffen Felsabbrüche der Fanes. Die gelbliche Färbung seiner Flanken verdankt die Kreuzkofelgruppe dem Mineral Dolomit, das durch seinen hohen Magnesiumanteil das Gestein färbt. Der französische Geologe Dolomieu beschrieb dieses Mineral im scheidenden 18. Jahrhundert erstmals. Damals war die gesamte Region unter dem Namen „Monti pallidi“, also „bleiche Berge“, bekannt und wer sich in einer Vollmondnacht zum Nightride begibt, weiß auch, warum.
Genug der Geschichte, wir widmen uns wieder profaneren Dingen, 600 Höhenmetern feinster, abwechslungsreicher Abfahrt. Wanderweg No. 15 startet felsig und schottrig, nur um alsbald in einen nadelgedämpften Waldpfad überzugehen, sich um enge Kehren zu winden und über Wurzelteppiche abwärts zu rollen. Er ist schnell, dieser Trail, und flüssig zu fahren. Vor Rüdeferia zweigen wir noch einmal ab auf den Weg No. 12 und verdienen uns so noch einige Tiefenmeter. Vollkommen zufrieden geht es dann entlang der Gader, die auf ladinisch Gran Ega, „Großes Wasser“ heißt, zurück ins Melodia del Bosco.
Kulinarisch und landschaftlich einzigartig
Monica Irsara, Klaus’ Schwester, hütet den Weinkeller des Hotels und wir erliegen ihrem Charme und der Vielzahl der ausgezeichneten Erzeugnisse von kleinen Südtiroler Weingütern. Sie ist es auch, die uns eine Menge erzählt zur ladinischen Sprache, deren Wurzeln in einer Mischung aus Volkslatein und Rätisch-keltischem liegen und die, wie das Rätoromanische Graubündens’, zu den romanischen Dialekten gezählt wird. Wer aufmerksam seine Bike-Karte studiert, kann den Multilingualismus sogar darin wiederentdecken. Die Orts-, und auch die Passnamen sind teilweise in drei verschiedenen Sprachen aufgedruckt: Deutsch/ Italienisch/ Ladinisch. Und auch das Limojoch, das wir mittlerweile erklommen haben, hört auf zwei weitere Namen: Jú de Limo und Passo di Limo. Bis hierher haben wir schon 37 km und jede Menge Höhenmeter in den Beinen, wir haben mit dem Jú de Ritt und dem Valun de Fanes schon zwei kleinere Übergänge geschafft und stehen nun nach einem gefälligen zweiten Frühstück in der Pederü-Hütte auf 2.172 m. Wir fahren die Tour, die in sämtlichen Erzählungen von befreundeten Bikern als absolutes landschaftliches Highlight gehandelt wird: die Fanes-Runde.
Naturpark Fanes-Sennes-Prags
Durch das Val da Tamarsc folgt man ab der Pederü-Hütte bald dem Dolomiten Höhenweg. Deutlich ist in den Felsformationen der Schichtaufbau des Sedimentgesteins zu erkennen. Die vielen Seen, Lêch Piciodèl, Lêch Vert und, direkt vor uns, Lêch Limo, sind die Produkte eines Phänomens, das seit jeher viele Geologen in den Naturpark Fanes-Sennes-Prags zieht: die Verkarstung. Das im Niederschlagswasser enthaltene Kohlendioxid ätzt den Großteil der leicht löslichen Kalkformationen aus oder löst sie ganz auf, und modelliert dadurch diese frappanten Gebirgsformen. Wir pedalieren weiter durch das alpine Auenland, hügelauf, hügelab durch eine Landschaft, die geformt ist von Wind und Wasser, unzählige Findlinge in jeder Größe säumen unseren Weg. Das intensive Grün des Bewuchses und der krüppeligen Latschenkiefern wird durch die bleichen Geröllhänge noch verstärkt.
360° Gegensätze. 360° Spannung.
Wir halten uns weiter an die Alta Via Dolomiti und ab dem Jú de Tadega geht es stetig bergab bis zum Aussichtspunkt Col de Locia. Rechts von uns erhebt sich die Cunturines-Spitze, der mit 3.064 m höchste Berg der Fanesgruppe. Wir freuen uns wie kleine Kinder auf die anstehenden 300 hm Abfahrt zur Capanna Alpina. Ultraknifflig und felsig-technisch im oberen Teil, genau, wie wir es mögen. Keinen Fuß absetzen, die Wette gilt! Weiter unten wird der Weg etwas flacher und damit auch leichter zu fahren, doch bleibt nach wie vor geröllig. Die meisten Biker, die auf ihrem Alpencross die berühmte Fanes-Hochebene durchfahren und ebenfalls hier landen, schütteln nur die Köpfe und feuern uns begeistert an. Der geniale Tag lässt sich nur auf eine mögliche Weise beschließen: Wir shuttlen hoch zum Passo Valparola, der hinüber nach Cortina d’Ampezzo führt. Stapfen einige Schritte. Die Felsspitzen ringsherum färben sich allmählich rot. Wir teilen Schüttelbrot, Trauben, Käse und Wein. Sind kauend sprachlos. Scharfer Wechsel zwischen in Schatten getauchte, sanft gewellte Almen und darauf sitzenden, steilen Riffen im Rotlicht. 360° Gegensätze. 360° Spannung.
Wissen
Am Ladinischen Kulturinstitut „Micurà de Rü“ in St. Martin in Thurn kann man sich über die ladinische Kultur informieren. Oder Ladinisch Sprachkurse belegen. Oder erstmal reinschnuppern und sich Kindergeschichten auf Ladinisch anhören. Micura
„More than apples and cows“: Das „franzmagazine“ fördert und stimuliert ein zeitgenössisches, mehrsprachiges, visionäres und kreatives Südtirol, Trentino und Tirol. Infos und Veranstaltungen, die man auf den offiziellen Tourismus-Websites oft vergeblich sucht! franzmagazine
Highlights
Zum Abendessen auf die "Schutzhütte Heilig Kreuz" und dort erstklassig mit Sonnenuntergangsblick dinieren. Danach im Nightride durch die Kiefernwälder, Grillenzirpen als Begleitmusik. Unvergesslich. (Unter uns: Bikerinnen schwärmen immer wieder von einem perfekten Ort zum Heiraten.)
Lacrusc
Zum Sonnenaufgang auf die Cir-Spitzen und hinterher in der Jimmyhütte frühstücken (auf Anfrage). Dann sind noch keine Touristen unterwegs und für den Heimweg bietet sich der Flowtrail vom Grödnerjoch an. Jimmy Hütte
Reisezeit
Mai – Oktober
GPS-Daten
Kartenmaterial
Kompass WK 624 Hochabtei – Alta Badia
Tabacco 07 Alta Badia – Arabba - Marmolada