Zu Besuch bei Nicolai Bikes

Text Johannes Haidn Bild Andreas Meyer
Firmenportrait

Alu verpflichtet

Der deutsche Mountainbike Hersteller Nicolai Bikes blickt 2020 auf eine 25-jährige Firmengeschichte zurück. Naheliegend, dass sich in dieser Zeitspanne extrem viel verändert hat. Trotz allem ist man einem immer treu geblieben: Dem Werkstoff Aluminium.

 
 
Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Zuschnitt

Das Heften der Rohre, hier beim EBOXX Rahmen. Übrigens: Bei Nicolai werden 350 Bauteile produziert und zu verschiedenen Rahmen verarbeitet.

Es ist Mittagszeit, als wir im beschaulichen Mehle die Produktionsstätte der Nicolai GmbH erreichen. Ja, Mehle. Nicolai ist nämlich vor gut einem Jahr aus dem Vierseit-Bauernhof in Lübbrechtsen in eine ehemalige Tortenfabrik umgezogen. Und so begrüßen wir einen Teil der Crew direkt am Mittagstisch. Einige Gesichter kenne ich noch aus vergangenen Zeiten. Doch auf die Frage von Vinc, dem Verkaufsleiter bei Nicolai, ob ich denn Mia noch erkannt habe, muss ich verneinend den Kopf schütteln. Mia ist die Tochter des Chefs, und ich habe sie zuletzt als kleines Mädchen gesehen. Mittlerweile studiert sie Holzbautechnik und legt nebenbei im Showroom der alten Industriehallen mit Hand an. Mann, bin ich alt geworden, schießt es mir durch den Kopf. Und Hut ab, was dieser Kalle Nicolai seit mittlerweile über zwei Jahrzehnten macht: hochwertige Fahrradrahmen in Deutschland entwickeln und produzieren.

Rückblick und Weitblick

Alles beginnt im Jahr 1991, als der 23-jährige Kalle Nicolai bei Horst Leitner bei AMP Research in Kalifornien ein Praktikum macht. Dort ist er unter anderem an der Entwicklung des legendären und immer noch aktuellen Horst Link Hinterbausystems beteiligt. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland gründet er 1995 Nicolai Maschinenbau, und schon im ersten Jahr gewinnt Leigh Donevan vom Mongoose Team auf einem Nicolai Trombone Fully Rahmen die Downhill Weltmeisterschaft.
Der Visionär, Tüftler und Macher Kalle Nicolai macht sich in der Branche schnell einen Namen. Durch zukunftsweisende, vom Mainstream abgewandte Rahmen zieht er die Blicke der Medien, Kunden, aber auch anderer Hersteller auf sich. Er wird zum Trendsetter, und auf den Messeständen der Firma mit dem spiegelverkehrten N als Logo tummeln sich ständig Produktentwickler anderer Hersteller. Die manuellen Fräs- und Drehmaschinen werden durch modernere CNC Maschinen ergänzt, später komplett ersetzt. Die Belegschaft wächst ständig und man beginnt die Rahmen selbst pulverzubeschichten. Die Rahmen werden mehr und mehr zu technischen Meisterstücken, selbst kleinste Bauteile wie Zughalter, Lagerdecke oder Kettenstrebenschutz werden selbst entwickelt und auf den eigenen Maschinen gefertigt. Unverkennbar – und eine Art Markenzeichen: die Schweißschuppen, in denen sich die beiden langjährigen Schweißerkollegen Sascha und Torsten verewigen.
Auch sportlich gesehen stellen sich große Erfolge ein: Nicolai unterhält für einige Jahre ein Downhill World Cup Team, feiert mit Joris Bigoni einen Europameistertitel und mit Ivan Lapraz sogar den zweiten Weltmeistertitel für die Firma. Kalle Nicolai beschränkt sich aber nicht nur auf das Entwickeln und Bauen von Rahmen, er betrachtet stets das Rad als Ganzes und sucht Lösungen in allen Bereichen. 1999 präsentiert Nicolai den ersten Rahmen mit integriertem Rohloff Schaltgetriebe, 2008 hält dann der Gates Carbon Riemen Einzug und bereits 2010 stellt die Firma das erste EBOXX E Bike Fully mit eigenem Antriebssystem vor.

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Showroom

Früher wurden hier süße Torten gebacken, heute werden hier Rahmen bzw. Räder mit markanten Design hergestellt: der neue Showroom von Nicolai in Mehle.

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Lager

Abgesehen von kleinen Custom-Schmieden ist Nicolai mittlerweile der einzige Hersteller, der Fahrradrahmen in Deutschland produziert.

Konsequenz in allen Bereichen

In all den Jahren bleibt Kalle Nicolai einer Sache treu: dem Werkstoff Aluminium. Dass sich dieser ständig weiter ausreizen lässt, beweist
Nicolai 2001 mit dem unter 2.000 Gramm leichten Fully Rahmen Saturn. Mittlerweile lässt Nicolai sogar kilometerweise Stangenprofile pressen, um die Effektivität der Produktion, aber auch die technischen Eigenschaften der Rahmen zu verbessern. Doch der Schrei vieler Kunden nach leichteren Rahmen aus Carbon geht an Nicolai nicht spurlos vorbei: Und so muss Kalle Nicolai seine auf rund 35 Leute angewachsene Mannschaft verkleinern. Er steht persönlich ein, vollzieht quasi selbst den Sozialplan und findet für jeden Einzelnen eine neue Anstellung. Die Firma macht sich schlank für die Zukunft, muss sich neu sortieren und organisieren. In dieser Zeit sucht man nicht nur nach neuen technischen Lösungen für die Rahmen, sondern für den ganzen operativen Bereich.
„Aufgrund der aufwendigen und in Deutschland stattfindenden Fertigung fällt die Marge für den Fachhandel branchentypisch geringer aus“, erzählt Kalle Nicolai. „Zudem zählt der typische Nicolai Kunde zu den anspruchsvollen; er hat viele Fragen, es müssen viele Gespräche geführt werden. Viele Kunden wollen mit uns direkt sprechen, mit dem Werk in Verbindung stehen.“ So wagt man den Schritt in ein neues und aufwendiges Vertriebssystem: Hat ein Kunde echtes Interesse an einem Rad, kommt der Nicolai Bus mit den Testrädern vorgefahren. Vinc, der Vertriebsleiter, sammelt die Kundenanfragen und plant entsprechend seine Reise durch die Republik. So will Nicolai bestmögliche Beratung für das Produkt garantieren.
Auch die neue Fertigungsstätte, die weitere Investition in moderne Maschinen und das Verwenden neuartiger Alu Legierungen ist das Vorgehen eines Visionärs – und so bringt Kalle Nicolai die Firma wieder zurück in die Erfolgsspur. Neben all seinen Visionen ist er aber auch Realist. Er weiß, dass ein ewiges Wachstum in einem begrenzten Raum nicht möglich ist, schon gar nicht mit einem Produkt wie Nicolai Bikes. Das hat er akzeptiert, lässt andere den Massenmarkt bedienen und will selbst auch in Zukunft ein gesundes, sympathisches Unternehmen mit exklusiven und visionären Produkten sein.

Kalle Nicolai im Interview

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Kalle Nicolai

Kalle Nicolai, 51, Geschäftsführer von Nicolai Bikes, hat nach all den Jahren erreicht, dass er vor allem das machen kann, was ihm Spaß macht: das Entwickeln neuer Produkte. Dafür brennt er. Mit seiner Firma hat er den Anspruch die feinste mechanische Lösung in die Realität umzusetzen. Das ist auch einer der Gründe, warum sich Kunden für ein Nicolai Bike entscheiden. Im Interview stand er Rede und Antwort.

Johannes Haidn: Jeff Steber von Intense Cycles sagte vor Jahren in einem Interview, dass er nun Carbon Rahmen mache, damit er sich die Produktion von Alu Rahmen weiterhin leisten könne. Nicolai baut keine Carbon Rahmen, sondern bisher „nur“ Alu Rahmen. Wird es in Zukunft auch Carbon Rahmen von Nicolai geben?

Kalle Nicolai: Definitiv nein! Die Kundschaft erkennt, dass ein sehr hochwertig gemachter Aluminium Rahmen mindestens den gleichen Wert hat wie ein Carbon Rahmen. Ganz bestimmt gibt es eine Gewichts Penalty, aber wer andere Ansätze favorisiert oder wer sagt, dass er ein Produkt haben möchte, dass er mindestens zehn Jahre benutzen kann, für den ist ein hochwertiger Rahmen aus Aluminium definitiv eine Alternative. Wir machen mit hochfesten Alu Legierungen weiter. Aluminium entwickelt sich ebenso weiter, es gibt Legierungen, die es vor 20 Jahren noch nicht gab. Wir sehen hier unseren Weg. Aluminium ist nicht tot, jedes Flugzeug besteht aus Alu. Außerdem haben wir bzw. der Kunde den Vorteil, dass er mit unseren Sachen nahezu alles machen kann. Wir haben bei unseren Rahmen/Rädern sehr hohe zugelassene Gesamtgewichte, z. B. 150 Kilo beim EBOXX. Bei dieser Frage möchte ich auch noch den Begriff der „Circular Economy“ einbringen. Wir sind gerade dabei, unser Unternehmen diesbezüglich auszurichten. Alles, was an unseren Bikes verbaut wird, soll vollständig recyclebar sein.

Johannes Haidn: Wenn wir schon bei den Themen Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit sind: Woher bezieht ihr euer Rohmaterial, sprich das verwendete Aluminium?

Kalle Nicolai: Das kommt auf das Material an, aber in der Regel beziehen wir es aus den Ländern Tschechien, Holland und Deutschland. Wenn es um Hydroforming Rohre geht, dann bekommst du die nur in Asien. Beim neuen EBOXX haben wir jedoch kein Hydroforming Oberrohr mehr. Unsere Kunden haben sich das gerade, runde Oberrohr zurückgewünscht, und das haben wir realisiert.

Johannes Haidn: Du fertigst seit mittlerweile 24 Jahren deine Rahmen in Deutschland. Die Kontakte ins günstigere Ausland sind sicher vorhanden. Warum bleibst du dem Produktionsstandort treu?

Kalle Nicolai: Wir produzieren seit den letzten zehn Jahren die gleiche Anzahl an Rahmen. Meine Intention ist es nicht, die Stückzahl von Jahr zu Jahr zu erhöhen, meine Intention ist es, den Laden so sauber zu führen, dass ich die 20 Leute, von denen mittlerweile viele Freunde geworden sind, vernünftig mit Arbeit versorgen kann. Der Grund für die Produktion im eigenen Haus ist die Mitarbeiterfamilie. Es ist ein Fakt, dass der Markt für diese Art von Produkt nur begrenzt ist. Ich möchte die Firma so führen, dass es sie auch noch in 15, 20 Jahren gibt. Das Einkaufen von großen Mengen aus Asien muss man machen, wenn man den Massenmarkt bedienen will, das tun wir aber nicht. Unser Anspruch ist es, dass am Ende ein besonders hochwertiges Produkt rauskommt. Du bekommst bei Nicolai die feinste mechanische Lösung. Das ist auf Neudeutsch das Mission Statement von Nicolai. Edgar Heinrich, Chefdesigner bei BMW Motorrad, sagte, dass die Mechanik der Luxus des 21. Jahrhunderts sein wird. Bei uns bekommt man nicht das beste Preis Leistungs Verhältnis, sondern Luxus – und genau das ist es, was unsere Kundschaft von uns erwartet.

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Meilensteine

Johannes Haidn: Das jährliche bzw. ewige Wachstum ist für dich also kein Thema?

Kalle Nicolai: Genau. Ich glaube, dass wir von dem, was wir hier tun, alle vernünftig leben können. Aber es ist jedes Jahr eine neue Herausforderung, es ist kein Selbstläufer. Wir müssen immer schauen, was denn das bessere Rad in der Zukunft sein wird, um weiter bestehen zu können. Es ist auch wirklich hart, es jedes Jahr aufs Neue hinzukriegen. Hierbei hat uns in den letzten Jahren die Elektrifizierung geholfen. Viele Kunden kaufen mittlerweile E Bikes. Auch Kooperationen wie mit Chris Porter (Anm. der Red.: Geolution Geometrie) helfen uns, das Mountainbike auf die nächste Stufe zu bringen.

Johannes Haidn: Nach dem letzten E Bike Test haben wir einen Leserbrief bekommen, in dem sich der Leser darüber beschwert hat, dass wir in unserem Magazin schon halbe Motorräder testen und er sich damit nicht mehr identifizieren könne. Er meinte im Speziellen damit euer EBOXX. Was sagst du zu so einem Kunden bzw. wo endet bei euch Fahrrad und wo beginnt Motorrad?

Kalle Nicolai: Grundsätzlich gebe ich dem Kunden sogar recht; das EBOXX ist kein klassisches Fahrrad mehr, es ist eine Mischung. Der Motor hat so viel Power wie zwei weitere Tandemfahrer hintendrauf. Und das kannst du dem Produkt auch ansehen. Wenn du mit dem Produkt dann über kindskopfgroße Steine fährst, würdest du mit einem anderen Fahrrad im Krankenhaus liegen. Bei Nicolai sind wir es seit 25 Jahren gewohnt, die Einsatzgrenzen zu verschieben, das ist auch nicht verwerflich. Hätte ich 1991 bei AMP in Kalifornien jemandem erzählt, dass wir mal mit Rädern mit 15 Zentimeter Federweg bergauf und bergab fahren, der hätte mich für komplett verrückt erklärt. Aber natürlich hast du auch immer Kunden, die sagen: Der VW Käfer ist das beste Auto. Aber das ist nicht das beste Auto.

Johannes Haidn: Mir persönlich fehlten in den letzten Jahren die Visionen des Kalle Nicolais. Wo sind diese geblieben?

Kalle Nicolai: Du musst das anders beobachten. Neben Nicolai habe ich mit meinem zweiten Unternehmen Universal Transmission den Gates Carbon Drive zum weltweiten Erfolg geführt. Das ist die Antriebstechnik der Zukunft, und diese sieht man mittlerweile nicht nur an Nicolai Bikes. Eine meiner großen Visionen ist, dass die Kettenschaltung am Rad verschwindet. Ich habe da in der Vergangenheit schon viel Arbeit reingesteckt und arbeite immer noch hart daran. Es gibt momentan noch nichts Adäquates. Die Dauerhaltbarkeit der Kettenschaltung passt nicht mehr zu den elektrifizierten Produkten. Es gibt noch keinen Antrieb mit kombiniertem Getriebe. Wir haben dafür gute Ideen und wollen zu unserem nächsten Jubiläum ein neues Getriebebike herausbringen. Mehr will ich dazu aber noch nicht sagen. Und außerdem glaube ich, dass die Sicherheitsfunktionalitäten in Zukunft eine große Rolle spielen werden.

Ein Teil des Team von Nicolai

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Torsten Knoke

Torsten Knoke, 47, Schweißer
„Heften und dann Feuer frei.“ Torsten schweißt seit sage und schreibe 19 Jahren Rahmen bei Nicolai. Eine Naht gleicht der anderen, denn die Messlatte dafür liegt hoch. An die 8.000 Rahmen hat er schätzungsweise geschweißt. Über die Jahre hat Torsten darin so eine Routine entwickelt, dass er, wie er selbst sagt, beim Ziehen einer langen Schweißnaht da­rüber nachdenken kann, was er am Abend einkaufen muss.

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Markus Schmidt

Markus Schmidt, 32, Betriebsleiter
Markus ist, wie viele seiner Kollegen, über die Nicolai Rahmen in der Firma gelandet. „Ich gebe mir Mühe, dass der Laden am Laufen bleibt“, sagt der Betriebsleiter. Er organisiert die Arbeit für rund zehn Leute in der Produktion und zehn CNC Maschinen. Zudem schreibt Markus die NC Programme der fertig entwickelten Bauteile.

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Jens Miller

Jens Miller, 28, Zerspannungsmechaniker/Konstrukteur
Jens hat 2009 nach einem Schulpraktikum bei Nicolai eine Lehre zum Zerspanungsmechaniker begonnen. Mittlerweile ist er Mädchen für alles, entwickelt und konstruiert neue Bauteile oder Rahmenmodelle. „Flaschenhalter am E Bike sind in den letzten Jahren ein Dauerthema bei uns!“ Das nahezu fertige Produkt hat er uns bereits auf seinem Rechner gezeigt.

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Vincent Stoyhe

Vincent Stoyhe, 34, Verkausleiter
Auch der anscheinend immer gut gelaunte Vinc kam 2005 über ein Praktikum zu Nicolai. „Das war schon geil, das alles wachsen zu sehen und zu gestalten.“ Wer sich ernsthaft für ein Nicolai Bike interessiert, wird an ihm nicht vorbeikommen bzw. er kommt persönlich vorbei, denn: Das Vertriebssystem sieht vor, dass interessierte Kunden zu Hause besucht werden, eine Runde mit dem Bike auf ihren Hometrails fahren und über die Modelle quatschen können.

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Claus Papendorf

Claus Papendorf, 42, Aftersale/Service
Der gelernte Zweiradmechaniker aus Heidelberg hat noch bis vor zehn Jahren Nicolai Rahmen im eigenen Laden verkauft, bis er dann selbst Teil der Nicolai Crew wurde. „Die grauen Haare haben in dieser Zeit stark zugenommen“, erzählt er lachend. „Das Erfolgsrezept der Firma ist, dass wir hier unter Freunden arbeiten.“

Zu Besuch bei Nicolai Bikes - Daniel Jahn

Daniel Jahn, 37, Montage und Beschichtung
Der Race Veteran geht nach der Arbeit ebenso gerne zum Trail Bauen wie zum Trail Shredden. An den Wochenenden steht er dann oft bei Downhill- und Enduro Rennen am Start, wo er sich 2018 und 2019 je einen Deutschen Meistertitel in der Masterklasse holte. Seine Expertise bringt er in die Entwicklung ein und liefert wertvollen Input für die nächste Rahmengeneration.

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