Zu Besuch bei Reifenhersteller Hutchinson

Text Christan Ettl Bild David Schultheiss
Firmenportrait

Gib Gummi
Hausbesuch bei Hutchinson

„Gib Gummi!“, das dachte ich mir so einige Male auf dem Weg nach Montargis. Wir hatten die Einladung von Andreas Länger erhalten, uns mit ihm in Frankreich zu treffen und die Entwicklung und Produktion der Hutchinson Reifen kennenzulernen. Da mir die Firma in meiner beruflichen Laufbahn, sowohl durch ihre Produkte als auch durch ihre Ideen, mehrfach aufgefallen ist, war ich sofort einverstanden. Die Stammniederlassung in Montargis liegt etwa eine Stunde Fahrzeit von Paris entfernt, darum wollte ich den Flieger nehmen. Aber da war ich wohl zu spät dran, Flüge gingen nur noch mit Umsteigen in Berlin und ewiger Wartezeit. Darüber hinaus waren sie auch noch sehr kostspielig. Also schnell einen Mietwagen gebucht, mit Umweg über Freiburg, um unseren Fotografen, David, einzusammeln – rund sieben Stunden, sagte der Routenplaner.

Daraus wurde aber nix, denn genau fünfmal stand ich im Stau. Der längste dauerte genau vier Stunden. Von den sechzehn Stunden Fahrzeit waren dann die in Frankreich die angenehmsten, wir rollten mit 130 über eine fast leere Autobahn dahin. Die Parkplätze waren gepflegter als mancher Vorgarten. Auch findet man hier nicht die kaputten Reifen oder Laufflächen von Lkws, die in Deutschland in regelmäßigen Abständen die Standstreifen „dekorieren“. Eben diese brachten mich während der Fahrt zum Nachdenken. Ein wenig kannte ich mich mit Reifen aus, aber einiges gab es doch, was ich schon immer erfahren wollte. So legte ich mir im Geiste schon eine Liste an Fragen zurecht und skizzierte grob den roten Faden, dem diese Reportage folgen sollte. Auch daraus wurde nix!

 
 

Das Gelände steckt voller Überraschungen, ebenso wie die ansehnliche Umgebung.

Ein Unternehmen mit Profil

Trotz vorheriger Recherche wurde ich auch bei diesem Firmenbesuch überrascht. Der Standort Montargis ist nur einer von rund hundert. Hier arbeiten etwa 1.000 der weltweit 30.000 Mitarbeiter, die einen Umsatz von 3,5 Milliarden Euro erzielten. Natürlich schafft man das nicht nur mit Fahrradreifen, ein wichtiger Sektor ist der Kfz-Bereich, hier werden rund 65 Prozent erwirtschaftet. Auch als Zulieferer anderer Industrien wie Luftfahrt, Raumfahrt oder Militär ist man aktiv. Wer mit einem Airbus fliegt oder in einem der vielen Züge von Bombardier sitzt, kommt ebenfalls dank Hutchinson an sein Ziel. Das ist alles nicht so fahrradspezifisch, will aber doch erwähnt sein. Gegründet hat das Unternehmen im Jahr 1853 Hiran Hutchinson, nach seiner Rück-Emigration aus den USA nach Europa. Die ersten Produkte waren Gummistiefel und Regenjacken. Dazu nutzte er seine Kenntnisse zur Vulkanisation, die damals eine völlig neue Technologie darstellte und von Charles Nelson Goodyear entwickelt worden war. Den ersten Fahrradreifen produzierte man 1890, seitdem produziert man durchgehend Reifen. Im Radsport gibt es ein paar Stationen, die beachtet werden wollen. So trug die Firma durch die Einführung des Phyton erheblich dazu bei, dass die meisten Mountainbiker heute auf Reifen zwischen 2.2 und 2.5 Zoll fahren. Dieser Reifen, auf dem zum Beispiel Paola Pezzo und Julien Absalon sehr erfolgreich unterwegs waren, war nicht nur breiter als zu der Zeit üblich, die Karkasse war außerdem bewusst darauf ausgelegt, mit weniger Druck gefahren zu werden. Mit Mavic wurde der UST Standard entwickelt, damit legte man den Grundstein für alle heute genutzten Tubeless-Systeme. Fahren ohne Schlauch hat bei Hutchinson schon länger Tradition, 1995 fuhr Christoph Sauser Tubeless mit Dichtmilch. Gilberto Simon war bereits 2001 für das Seaco Team ohne Schlauch in der Tour de France unterwegs. Die Schlauchlosversion der Rennradbereifung ist auch aktuell eines der von den Franzosen am stärksten verfolgten Projekte.

Gummi ist nicht gleich Gummi.

Einrollen

Am Haupteingang heißt es erst mal: anmelden, Besucherausweise bekommen und Stahlkappen zum Überziehen über die Straßenschuhe mitnehmen. Auf dem Weg zu unserem ersten Tagesordnungspunkt gehen wir an einem Gebäude vorbei, das gerade zum Museum ausgebaut wird. Dieses Gebäude wurde von einem Herrn Eiffel erbaut – genau dem Fachmann für Stahlkonstruktionen, dem Paris sein Wahrzeichen verdankt. Und hier stand einst die Dampfmaschine, mit der Dampf für die Vulkanisation produziert wurde.
Dann stehen wir vor dem Forschungszentrum und sind verblüfft. Der Komplex ist doch etwas groß nur für die Reifenentwicklung. Hutchinsons Reifenentwickler Norbert Gangloff erklärt uns, dass es sich dabei um das Forschungszentrum für alle Sparten handelt, in denen Hutchinson tätig ist. Hier werden fünf Prozent des gesamten Umsatzes für die Entwicklung und Forschung eingesetzt. Dementsprechend ist man hier auch ausgerüstet. In mehreren Gebäuden und auf vier Stockwerken können Werkstoffe und Produkte chemisch, physikalisch oder akustisch analysiert werden. Auch ein Rechenzentrum gehört dazu, hier werden Simulationen durchgeführt für Materialien, die in der Praxis nicht verfügbar sind. Der Rechner, der hier arbeitet, existiert ein zweites Mal: Er steht bei der NASA, zur Berechnung von Asteroidenbahnen im Weltall. Bei Hutchinson werden hier die Neuentwicklungen des Unternehmens geprüft, bevor sie zur Anwendung kommen. Die neuesten Entwicklungen stellen eine Abkehr vom Reifenmaterial Gummi dar. Man hat sogar ein eigenes Tochterunternehmen gegründet: Hutchinson Polymers. Diese Sparte beschäftigt sich mit Thermoplasten. Langfristig könnten sie Gummi ersetzen, weil sie weniger energieaufwendig in der Herstellung sind und recycelt werden können. Die Zahnriemen und Keilriemen für Autohersteller liefert man zum Teil schon mit Laufrollen und Spannrollen aus diesem Material aus. Eine neue Form von Motoraufhängung besteht ebenfalls daraus und soll Vibrationen des Selbigen komplett eliminieren, indem sie sensorgesteuert ihre Elastizität der Frequenz des Aggregats anpasst. Hier wurden auch „Runflat“-Systeme für Militärfahrzeuge erfunden oder Fensterdichtungen für Flugzeuge. Auch Verbundmaterialien aus Fiberglas, Aluminium-Gewebe und Gummi hat man hier erdacht, diese stecken in modernen Öltankern und verhindern das Auslaufen bei Beschädigung der Außenhülle. Noch aufwendiger in der Konstruktion sind Tanks für Hubschrauber. Diese sind mit speziellen Schaumstoffen gefüllt, die den Tank zum Beispiel nach einem Durchschuss wieder verschließen oder eine Explosion, etwa nach einem Absturz, verhindern. Das sind Anwendungen, mit denen nicht jeder von uns in Berührung kommt – aber täglich benutzen wir Spraydosen. Ob Kettenöl, Deo oder Rasierschaum, Hutchinson stellt die meisten der Dichtungen in Spraydosen her.

Plastisch, elastisch, gedämpft ...

Wir haben uns, beginnend mit dem Physiklabor, die Testlabors angesehen. Hier wird Gummi oder Kunststoff auf seine Produkteigenschaften hinsichtlich Härte, Abrieb und Haltbarkeit untersucht. Biegevorgänge oder Zug-Druck-Wechsel müssen Gummiteile bis zu 1.000 Stunden lang aushalten (das sind rund 42 Tage). Um in den Werkstoff hineinsehen zu können, wird ein Röntgengerät benutzt. Die Alterung von Materialien kann in einer Alterungskammer nachgebildet werden, diese simuliert einen normalen Lebenszyklus der Bauteile in wenigen Wochen. Das geschieht durch extreme Wechsel von Druck, Luftfeuchtigkeit und Temperatur. Das Chemielabor lässt uns an amerikanische Serien im Stile von CSI denken. Hier werden die Stoffe in ihre Einzelteile zerlegt. Rektionen zwischen verschiedenen Werkstoffen sollen besser verstanden werden, indem man die Zusammenhänge auf molekularer Ebene betrachtet. Ein Level von 0,8 Nanometer sei eine Größe, mit der man gut arbeiten könne, teilte man uns mit. Im ersten Moment hielt ich das für einen Scherz, im nächsten standen wir vor dem Kernspinnresonanzspektroskop. Abgekürzt heißt das Gerät RMN, damit wird die Bestimmung von Dynamik und Struktur einzelner Moleküle möglich. Das letzte Labor, das wir uns angeschaut haben, ist das Audiolabor. Wir betreten den „anechoic room“, einen schalltoten Raum. Hier sind Wände und Decke mit speziellen Schaumstoffpyramiden ausgekleidet, der Boden hat einen zähen Spezialanstrich. Wir werden gebeten, sofort zu sagen, wenn wir uns unwohl fühlen: Angeblich verliert hier ab und an jemand das Bewusstsein. Uns geht es gut, aber es ist schon sehr seltsam, wenn man sich selber kaum sprechen hört, und man fängt unbewusst an zu schreien. Als niemand mehr redet, wird es unheimlich, keine Umgebungsgeräusche mehr, selbst sein eignes Atmen nimmt man nicht mehr wahr. Der Nachbarraum ist ein sogenannter „reverbing room“, ein Gegenpol zum schalltoten Raum. In ihm gibt es keine Fläche, die parallel zu einer anderen steht, das soll es dem Schall unmöglich machen, sich zu überlagern. In diesem Räumen werden Dichtungen oder ganze Bauteile auf Geräuschentwicklung bzw. ihre geräuschdämpfende Wirkung hin getestet. Auch wird bewusst an der Erzeugung von Geräuschen gearbeitet, so soll beispielsweise ein Elektroauto absichtlich lauter werden, damit Fußgänger es im Stadtverkehr wahrnehmen. Nach den eigentlichen Laboren bekommen wir Zugang zur Abteilung „Simulation“. In diesem Rechenzentrum beschäftigt man sich vor allem mit der virtuellen Arbeit an Gummi und Thermoplast. Neben der Kapazität der Rechner ist die Programmierung, mit der sie arbeiten, für die Relevanz der ermittelten Daten ausschlaggebend. Seit Anfang der 80er Jahre, also seit 30 Jahren, werden hier eigene Programmierungen geschrieben, Anfang der 90er konnte man die ersten aussagekräftigen Simulationen durchführen. Neben der Prüfung von Eigenschaften, die auch in anderen Bereichen getestet werden, ist hier zum Beispiel auch die Verarbeitung darstellbar, bevor man Praxisversuche macht. So kann auch das Fließen einer neuen Gummisorte in die Backform simuliert werden und Fehlversuche werden vermieden.

Gut gemischt ist halb gewonnen.

Tests und Entwicklung sind nötig, um ein gutes Produkt zu erhalten. In der Fertigung werden dann die Stückzahlen gebaut, die letztlich die Forschung finanzieren. Bei allen Gummiprodukten geht es mit der sogenannten Mischerei los. Hier werden die einzelnen Bestandteile gemischt und zum Ausgangsmaterial für die verschiedenen Reifen, Schläuche und Dichtungen verarbeitet. Im Prinzip ähnelt das Verfahren der Herstellung von Plätzchenteig. Erst wird alles in einem riesigen Mixer vermischt und dann geknetet, bis eine homogene Masse entsteht. Der Hauptbestandteil ist immer Naturgummi bzw. Kautschuk, der vor allem aus Asien und Afrika kommt. Auch synthetischer Gummi, aus Erdöl hergestellt, wäre einsetzbar. Der hat aber nicht die Eigenschaften, die man von einem Fahrradreifen erwartet, und kommt somit wenig zum Einsatz. Etwas Öl kommt immer in den „Teig“, das hält den Gummi geschmeidig und schützt vor zu schneller Alterung, gerne nimmt man dafür Parafin. Die Steifigkeit, Reißfestigkeit und Zähigkeit eines Reifens erhält er vom gleichen Stoff, der ihm seine Farbe gibt. Ruß, auch „Carbon Black“ genannt, macht den Unterschied zwischen einem klebrig weichen und einem elastischen und haltbaren Produkt. Ähnliche Ergebnisse lassen sich mit Silica (Kieselsäure) erzielen, teilweise kommen Mischungen von beiden zum Einsatz. Die Gummimischung wird dabei nicht über 100 bis 110 Grad erwärmt. Zwar hilft die Wärme, die Stoffe zu verbinden, aber der Gummi darf nicht komplett vulkanisieren und damit aushärten.

Backen, backen, Reifen machen

Dieses finale Vulkanisieren passiert beim „Backen“ des Reifens. Dabei wird der Gummi auch mit den restlichen Bestandteilen des Reifens vereint. In der Produktion sehen wir nicht nur Reifen mit eigenem Label, auch die Mavic Reifenkollektion läuft hier vom Band. Eines der Teile ist der sogenannte Wulstkern. Dieser besteht aus Draht oder auch Kevlar und hält als „innerer Ring“ den fertigen Reifen auf der Felge. Dieser Kern wird direkt bei der Fertigung mit Gummi überzogen, so lässt er sich später optimal mit den restlichen Teilen des Reifens verbacken. Eine weitere, sehr wichtige Komponente ist die Lauffläche. Diese wird aus ein bis maximal drei Gummisorten hergestellt. Dazu wird aus einem großen Gummipaket ein Band extrudiert, also gepresst und gezogen. Der letzte fehlende Teil ist die Karkasse. Diese besteht aus einem stabilen reißfesten Gewebe, das mit einer dünnen Schicht Gummi überzogen wird. Die Karkasse ist das erste Teil, das beim Zusammenfügen der Teile, dem sogenannten Konfektionieren, in die Form gelegt wird. In dieses Gewebe werden die beiden Wulstkerne eingeschlagen und die Lauffläche wird daraufgelegt. Die Teile kleben, so wie sie sind, zusammen und sind bereit für das finale Backen. Dabei wird der Reifen in eine Form gelegt, diese besteht aus mehreren Teilen und hat auf der Außenseite das Profil als Negativ. Der Reifenrohling wird von innen aufgeblasen und dabei erhitzt. Bei ca. 170 Grad fließt innerhalb von drei Minuten der Gummi in die Form und die Bauteile verkleben endgültig miteinander. Danach muss das fertige Teil noch auskühlen, bevor es in den Versand gehen kann.

Die Zutaten für einen erfolgreichen Reifen.

Gib Gummi, die Zweite

Nach den Einblicken in Forschung und Produktion haben wir uns noch über die Trends in Sachen Reifen und ein Paar Ideen von Norbert und Samuel zu diesem Thema unterhalten. Mal sehen, was davon bald an Reifen von Hutchinson oder Mavic zu sehen ist. Wir treten mit einer Menge verschiedener Eindrücke im Kopf den Heimweg an. Auch den Geruch werden wir nicht vergessen, einige der Stoffe bezeichnet der Fachmann als „hocharomatisch“, wie passend. Und was die Nase angeht, ich rieche eine Strecke ohne Stau. Freie Bahn, sozusagen. Wir geben Gummi.

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