Da fahre ich schon wieder Rennen und mir ist klar, was ich brauche, um ganz vorne rein zu fahren.
Ich brauche Watt! Am liebsten ordentlich viel davon. Wie viel, das ist abhängig von meinem Körpergewicht oder besser: vom Gesamtgewicht
Der vollkommene Rennfahrer
Die ambitionierten Schnellfahrer sprechen von Watt pro Kilogramm. Um jetzt einen besonders hohen Wert zu erlangen, wird trainiert. Früher musste man nur Rad fahren, um sich auf der Ergebnisliste ganz oben zu sehen. Heute ist das Motto “viel hilft viel“ so weit weg, wie die Telekom vom Radsport.
Heute hilft den Watt-Jüngern nur noch Hunter Allen! Dieser Trainer hat Joe Friel und seine Trainingsbibel revolutioniert. Was vor ein paar Jahren noch KB oder SB hieß, das wird heute in sieben Zonen geteilt. Und um seinen Schwellenwert zu steigern, muss es schon die END-W7 Trainingseinheit sein. Daher sollte auch jedes der drei Mountainbikes eine Wattkurbel besitzen. Das ist nicht nur teuer, das macht abhängig. Das Training wird nun abhängig von Zahlen. Vorbei sind die Zeiten, wo man das Wetter und die Laune hat entscheiden lassen, was auf dem Trainingsplan steht. Damals konnte man im Nachhinein noch jede Ausfahrt als optimale, zielorientierte Trainingseinheit verkaufen. Jetzt kommt der Spaß nur noch mit dem Erreichen von Werten, die danach ein geeignetes Computerprogramm interpretiert und den Trainings-Vollnerd züchtet. Ein Rennen ist nur so hart, wie die NP (normalisierte Leistung) war. Man kann nicht mehr lügen und erzählen, wie man trotz Leiden am Limit die gesamte Gruppe auseinander gesprengt hat. War die NP zu gering, dann war es nichts wert. Und jetzt kommt‘s noch dicker: „Is it not on Strava – it wasn‘t real!“ Die KOMs werden gejagt, sagt Hunter; heute steht Watt-W5 auf dem Plan, dann ächzt Strava nach deinen Bestzeiten. Das Schöne ist, wenn man durch KUDOs von seinen Followern bestätigt wird. Auch da kann man unterscheiden: Gibt es von dem Typen ein Kudo, von dem man immer eins bekommt, hat es nicht die gleiche Wertigkeit, wie wenn man von dem Hunter-Jünger eins bekommt. Der Hunter-Jünger analysiert deine Ausfahrt. Er checkt deine Laps und weiß über deine Wattwerte und CP20-Werte Bescheid. Du bist ein gläserner Athlet. Nach so einem Kudo wird das Ego hochgeschraubt. Aber zurück zur harten Realität: der gnadenlose Vergleich – das Wochenende steht vor der Tür. Dem Rennen sind deine Kudos egal, jetzt ist Zeit für Ausreden, warum das Rennen nicht laufen wird.
Gerne im Startblock von links nach rechts gebrüllt, dass man krank war und das Training nicht optimal lief.
Nun aber zum Essverhalten des vollkommenen Rennfahrers. Er ernährt sich kohlenhydratarm! Die KH sind nämlich Gift und machen fett! Und Fett ist Gewicht und die Sache mit Watt pro Kilogramm kennen wir bereits.
Das Ganze macht man ein paar Tage und freut sich über den radikalen Gewichtsverlust und der Partner über die chronisch schlechte Laune. Der Saisonhöhepunkt trifft, wie immer, schon viel zu früh ein. Dank strenger Mangelernährung sieht man fast so aus wie Michael Rasmussen und hat sein selbsternanntes Setpoint-Gewicht (wird so genannt, weil es das Gewicht ist, das man problemlos halten kann) erreicht. Die Kurbel fällt nun noch langsamer herum als die von Reiner Calmund auf seinem E-Bike. Die Aussage: „Ich bin am kränkeln und das wird heute nichts.“, wird nun zur Selffulfilling Prophecy und danach die Strava-Einheit benannt. Man erntet Kudos und sogar bemitleidende Kommentare. Die Laune ist am Tiefpunkt. Wer denkt, tiefer kann sie nicht fallen, der sollte den vollkommenen Rennfahrer mal treffen, wenn er sein selbsternanntes Setpoint-Gewicht nicht mehr halten kann.