Melchsee – Frutt – Grundsätzlich Hochbegabt

Text Sebastian Lehr Bild Andreas Meyer
Geschichten

Hochbegabt

„Eine Region mit enormem Potenzial. Weit über dem Durchschnitt. Hochbegabt.“ Als Reisebericht eignen sich wissenschaftliche Studien wenig, lesen sie sich doch zumeist rational und wertfrei. Es fehlt die emotionale Wärme einer verführerischen Bildsprache.

Auch wenn meine Einleitung mehr Stilmittel ist – die Intention meiner Aussage bleibt. Melchsee-Frutt hat als Bike-Destination eine in seine DNS eingeschriebene Hochbegabung. Die Infrastruktur, die Hotellerie, die Kooperation mit benachbarten Regionen und letztlich die einmalige Landschaftskulisse machen im Gesamten die faszinierenden Gene dieses Schweizer Hochplateaus aus.

Aus der Ausgabe 10.16

 
 

Berg - Oase
Melchsee-Frutt? Auch wir mussten erst einmal die Karte zur Hand nehmen. Fündig wurden wir im Kanton Obwalden in der Zentralschweiz. Bereits im 19. Jahrhundert galt der auf 1.800 Höhenmetern liegende Melchsee als Luftkurort von fesselnder Schönheit. Eine hochalpine Oase, umgeben von nahen Drei- und – für den perspektivisch perfekten Blickwinkel gerade weit genug entfernten – Viertausendern. Weit besser als die Worte „Ruhe“ und „Abgeschiedenheit“ umschreibt folgende Tatsache die Friedlichkeit dieser autofreien Bergregion: In Melchsee-Frutt sind nicht die Kühe auf einer Weide stehend umzäunt; es sind die Gebäude, die, umspannt mit Weidezaun, der naturbelassenen Landschaft größte Freizügigkeit gestatten. Gebäude gibt es ohnehin nicht viele. Das Bike Hotel „Frutt Family Lodge“ bildet den Bike-touristischen Mittelpunkt. Hauptdarsteller sind die saftig grünen Hügel, die Bergseen und die sich darin spiegelnden Gipfel. Vereinzelte Almen mimen als Nebendarsteller auf dieser imposanten Freiluftbühne die Botschafter einer fernen Zivilisation. Es handelt sich eigentlich um eine Wintersportregion, doch Melchsee wäre nicht die erste, die den Sprung zum Mountainbike Hot Spot schafft. Sie könnte aber eine der ersten werden, die einen höchst nachhaltigen, naturintegrativen Sommertourismus etabliert. Die Sandwichposition zwischen den bekannten Bike-Zielen Hasliberg und Engelberg bündelt Energien. Beim Blick auf die Karte: Ungläubiges Staunen! Wie viele Seen gibt es da denn noch?

Wasser von oben l: Wir suchen Unterschlupf vor den Elementen in der vielleicht kleinsten Hütte.

Wasser von oben ll: Wir lassen das Wasser genüsslich auf uns niederpasseln. Die Frutt Family Lodge verwöhnt uns mit tollem Bergblick

Berg – Gewässer
Ein gesundes Frühstück auf der Sonnenterrasse mit schweifendem Blick über See und Bergkulisse hält uns zunächst erfolgreich davon ab, die Bike-Shorts anzuziehen. Zu gemütlich die Ruhe, diese ungekannte, friedliche Ruhe. Das Wort Entschleunigung hielt ich bisher für eine Erfindung unserer selbstoptimierungswütigen Gesellschaft. Keine vierundzwanzig Stunden auf dem Hochplateau, empfinde ich genau dies. Wunderbar. Gelassen, und trotzdem kraft- und energiegeladen, starten wir. Dominik Ettlin, 29, und stellvertretender Präsident des Bike-Marathons Obwalden, ist unglaublich engagiert. Stets zur Stelle, und doch angenehm unaufdringlich, erklärt er uns Details zu den Touren.

Unsere erste führt uns erstmal bergauf, vorbei an der Tannalp. Gleich zuoberst erspähen wir den Engstlensee. Eingebettet im Talkessel, wacht er aus tiefsten grünblauen Augen über das wilde Gental. Der Pfad fordert etwas Schwindelfreiheit, führt uns an der Engstlenalp und weiter am See vorbei und mit der Bahn hinauf zum Jochpass. Oben angekommen, fühlen wir uns in perfekter Café-Laune. So krönen wir die Aussicht auf Schweizer Gletscher mit „Kaffee Chriiter“: einer hiesigen hochprozentigen Kaffeespezialität. Eine, nennen wir es mal, „Geschmackssache“ – doch die Redelaune steigt und wir erfahren von Trudy. Die Wirtin ist Namensgeberin und Patronin der hervorragend präparierten Abfahrt zum Trübsee. Doch die drohend im Westen aufziehende Gewitterzelle behagt uns nicht besonders, und so vertagen wir die Fahrt auf Trudys Hometrail. Eilig treten wir den Rückweg an, doch das Unwetter erreicht uns zügig. Ein Jammer, denn vom Jochpass könnte man auch über 1.700 hm hinüber nach Engelberg und in den kleinen Weiler Grafenort abfahren. Wir nehmen die etwas kürzere Variante zum Engstlesee und surfen vor einschüchternder Gewitterkulisse. Was ist lauter – der Donner oder unser Herzschlag im Ohr? Eine ziemlich emotionale Angelegenheit, und doch schalte ich schon nach den ersten Kurven ab und verliebe mich in diesen Rollercoaster. Der natürliche Wiesen-Flowtrail erscheint mir wie der sprichwörtliche Schatz am Ende eines Regenbogens.
Hier fahre ich nicht Mountainbike, um abzuschalten, dem Alltag zu entfliehen oder um mir eine zweistündige Oase der Glückseligkeit zu schaffen. Hier fahre ich Mountainbike, um mich mit den Elementen zu verbinden, die betörende Natur in all ihrer Schönheit und mit all ihren Gefahren, ohne die Scheuklappen des Alltags, zu erleben.

"Beim Blick auf die Karte: Ungläubiges Staunen! Wie viele Seen gibt es da denn noch?"

Berg – Komfort
Das Gewitter verzieht sich, der Regen bleibt. Auf dem Rückweg werden wir nass bis auf die Knochen. Doch wo Regen, dort auch Sonnenschein; in unserem Fall der Spa-Bereich im Hotel. In behaglicher Wärme verwöhnen wir unsere von den Unbilden des Gewitters unterkühlten Körper. Nach wie vor wütet ein heftiger Wind, der Regen trommelt an die Panoramaverglasung. Wohlig entspannt berührt uns diese Tatsache nur noch peripher.

Die kristallklaren Bergseen sind hervorragendes Fischerei-Terrain. Wer seinen Saibling fangen möchte, sollte noch vor Sonnenaufgang die Rute auswerfen. Dies zum Motto gemacht, starten wir am nächsten Morgen auch vor Sonnenaufgang in Richtung Tannensee. Unser Ziel ist nicht der Saibling, viel eher der wohl längste Single-Trail der Schweiz. Fast schüchtern und introvertiert zieht er sich auf 19 km vom Melchsee-Plateau bis nach Giswil. Ein unbeschriebenes Blatt mit enormem Potenzial, wie die gesamte Region. Außer wegen der grandiosen Aussicht zu Sonnenaufgang am Heiligen Kreuz, ist der frühe Start auch deshalb ratsam, weil ab der Mittagszeit zahlreiche Wanderer den Weg frequentieren. Es gibt keine Streitpunkte, doch wer den Trail mit Schwung und Flow zu fahren gedenkt, sollte sich für einsame frühe oder spätere Stunden entscheiden. Es ist eine Panoramatour, die ihresgleichen sucht: die imposanten Gipfel der Berner Alpen buhlen mit den vorgelagerten Seen um unsere Aufmerksamkeit. Der Pfad ist ein Rohdiamant: knifflig und fordernd am Anfang, dann kurvend um kleine Bergkuppen, immer abwechslungsreich. Obwohl er nur so gerade breit genug ist, um ihn flüssig zu fahren, müssen wir uns nicht zu kurzen Pausen zwingen. Es ist nicht nur die Aussicht auf den sich vielversprechend an der Flanke des Haslibergs entlangziehenden Weg; auch der Anblick der von Gletschern durchsetzten Felswände raubt einfach den Atem. In dem Wissen „Diesem Trail gehört die Zukunft!“ sind wir glücklich, ihn befahren zu haben, bevor er sich zum Mainstream bekennt. Zurück aufs Hochplateau bringen uns die Schweizer Verkehrsmittel. Dank dem „Tellpass“ fahren wir in der ganzen Zentralschweiz kostengünstig Zug, Bus, Bergbahn und auch Schiff. Die Infrastruktur ist auf solch hohem Niveau, dass wir unseren Ausgangspunkt trotz saurer Oberschenkel von überall zuverlässig erreichen.
So steigen wir ausgehungert aus der Stöckalp-Gondel und rollen nach einem langen Biketag zurück zum Melchsee.

Berg, See und lokale Köstlichkeiten in Verbindung mit spannenden Trails sind und bleiben die perfekte Mischung für den Urlaub.

Hasliberg, Melchsee, Engelberg. Dieses Dreigestirn gehört auf jede Bike-Agenda
Die Feuerstellen am Ufer sind jetzt genau das Richtige für ein rustikales Self Made Dinner. Auf 2.000 Metern, bei untergehender Sonne und, dank geringer Lichtverschmutzung, klarem Sternenhimmel wird dieser Abend zum reinen Müßiggang. Die Wärme unseres Feuers verbindet. Wir kommen mit Einheimischen ins Gespräch. Es sind engagierte Vogelkundler, die uns vom Bartgeier berichten, einem der weltweit größten Greifvögel. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde das Tier stark verfolgt und letztlich völlig aus der alpinen Fauna getilgt. Wir erfahren, dass erst vor kurzem, nach über 100 Jahren, fünf Tiere hier in der Region und erstmalig im ganzen Alpenraum ausgewildert wurden. Mit etwas Glück sind sie in den Schrofen von Hengliboden aus zu sichten. So am Feuer sitzend wird es spät. Es soll der Sonnenaufgang werden, der mein Melchsee-Frutt Erlebnis nachhaltig prägt. Wir erblicken Eis.

Berg – Besinnen
In beinahe senkrechter Pose strebt der Eiger in einen kühlen, von der Dämmerung umfangenen Himmel; eindrücklich geprägt vom Wechselspiel zwischen annähernd schwarzem Fels und leuchtend weißem Schnee. Mit einem schlichten, versöhnlichen Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit gestattet mir dieser exponierte Berg einen Moment der gedanklichen Windstille. Völlig im Einklang von Innerem und Äußerem. So schließe ich meine Begegnung mit dem mir bis dahin völlig unbekannt gewesenen Terrain Melchsee-Frutt ab. Als ein unbeschriebenes Blatt Papier, so startete ich meine Reise. Die Rückkehr in meinen Alltag ist geprägt von der Frage, ob nicht diese ehrliche und wertbeständige Umgebung zur eigentlich erstrebenswerten Wirklichkeit einer Bike-Destination gehören sollte?

Der Sonnenaufgang hier lohnt sich. Langsam sucht sich die Sonne ihren Weg über die umliegenden Dreitausender.

Infos

Lage
Melchsee-Frutt liegt im Kanton Obwalden in der Zentralschweiz. Über die A8 bis Krens führt uns die Straße durchs Melchtal bis hinauf zum Hochplateau. Zuletzt einspurig und nur stündlich im Wechsel bergauf oder bergab zu fahren.

Nachfragen

• Tourismusverein
Sarnerstrasse 1
6064 Kerns
Tel. +41 (0)41 669 70 60
Fax +41 (0)41 669 70 69
info@melchsee-frutt.ch
www.fruttresort.ch

Wer es urtümlicher mag:
• Berggasthaus Tannalp
6068 Melchsee-Frutt
Tel. +41 (0)41 669 12 41
Fax +41 (0)41 669 11 47
info@tannalp.ch
www.tellpass.ch

Termin
Für ganz Spontane: o-tour Bike Marathon Obwalden, UCI Marathon Series, 11.09.2017. Marathon, Halbmarathon, Kids Race, uvm. Neuerdings ist ab diesem Jahr die Teilnahme mit E-MTBs und Fatbikes gestattet! www.myswitzerland.com/bikehotels

Die Regionen der Swiss Bike Hotels
- Berner Oberland
- Graubünden
- Jura & Drei-Seen-Land und Genfersee
- Luzern-Vierwaldstättersee
- Ostschweiz/Liechtenstein
- Tessin
- Wallis

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