Winter Transalp im Zelt

Text Jan Timmermann Bild Fabian Jaugstätter
Geschichten

Mit Sack und Pack über die Alpen

Alles muss auf den Rücken. Deshalb landet auch jedes noch so kleine Teil vor Abreise auf der Küchenwaage. Zwölf Gramm wiegt die Zahnbürste? Viel zu schwer! Zähneputzen kann man auch mit halbiertem Griff und nur acht Gramm.

 
 

Die Ursprungsidee war gut: Alpencross! Übernachten allerdings nicht, wie wohl die meisten Transalpinisten, im bequemen Hüttenbett, sondern noch näher an der Natur – im Zelt oder alternativ im Biwak. Unabhängige Routenwahl, schön viel Frischluft, unschlagbar kostengünstig. Die Vorteile lagen auf der Hand … Dass auch fragwürdige Körperhygiene, durchgefrorene Nächte und schmerzende Rücken dazugehören mussten, nahmen wir in spätjugendlicher Naivität gerne in Kauf. Gaskocher, zwei Zelte und Klamotten für alle Eventualitäten schleppen wir nun im Rucksack über den Alpenhauptkamm. Auf Rahmentaschen oder Ähnliches wird großenteils verzichtet – schließlich wollen wir möglichst viele Trailkilometer fahren und nicht das Handling eines unbepackten Bikes missen.
Bereits zum vierten Mal unternehmen wir nun dieses Abenteuer. Doch diesmal ist etwas anders: Waren wir bislang in der Regel im August oder September unterwegs, ist es Oktober geworden, bis sich unsere erwerbstüchtige Truppe zehn Tage inklusive An- und Abreise freischaufeln konnte. Das bedeutet, noch mehr Klamotten über die Pässe zu buckeln sowie – ausnahmsweise – auf das Ausreizen des empfohlenen Risiko Temperaturbereichs des Schlafsacks zu verzichten. Etwa 14 Kilo wiegen die Rucksäcke nun ohne Essen und Trinken. Das ist mehr als unsere Bikes. Trotzdem ist die Stimmung beim Start in Garmisch Partenkirchen gut: Es geht gen Süden, und die Routenwahl verspricht einige Highlights.

Winter Transalp im Zelt Alpenpanorama

Feinstes Alpenpanorama lässt das lachhafte Rucksackgewicht von 14 Kilo (fast) vergessen.

Zunächst radeln wir mit Blick auf die Zugspitze Richtung Fernpass und weiter über Imst, bis wir kurz hinter Wenns eine kleine Grillhütte beziehen. Die erste Nacht offenbart: Es ist kalt! Das Thermometer ist bei sternenklarem Himmel unter den Gefrierpunkt gefallen. Das Anziehen der klammen, vom Vortag klebrig verschwitzten Klamotten und das „Reinfummeln“ der Kontaktlinsen mit steifen Fingern in verquollene Augen wird sich auf der Tour als der allmorgendliche Tiefpunkt des Körperkomforts herausstellen.
Bei Sonnenaufgang starten wir dank des malerischen Blicks auf verschneite Gipfel dennoch voller Elan. Damit ist Schluss, als später am Tag eine tiefschwarze Wolkenfront aufzieht. Mist! Wir sind noch mitten auf dem Pass, und über uns braut sich ein handfestes Unwetter zusammen! Versuchen, sich ins nächste Tal zu retten? Aussichtslos. Das Zelt aufschlagen und der Dinge harren? Keine gute Idee. Da kommt ein kleiner verlassener Kuhstall in Sichtweite. Der Boden ist voller Dung – an eine Übernachtung ist hier nicht zu denken. Plötzlich deutet Fabian nach oben: Auf den Dachbalken liegen Bretter, welche wir zu einer minimalen Liegefläche zusammenschieben können. Gedacht, getan, und schon strecken wir uns bibbernd in drei Meter Höhe auf den Planken aus. Um uns tobt der Sturm, unter uns mieft die Gülle … was für eine Nacht!

Winter Transalp im Zelt luftiges Zuhause

Das luftige Zuhause haben wir immer dabei.

Am nächsten Morgen ist der Regen weggezo­gen und im nächsten Tal herrschen akzeptable
Temperaturen. Deshalb wird ein Sandsteinbrunnen kurzerhand zum Badzuber umfunktioniert und der Kuhstallgeruch notdürftig abge­waschen. Aus Erfahrung wissen wir: Biketouren dieser Art stehen und fallen mit der Motivation der Gruppe; und als wir alle splitternackt im Nirgendwo stehen, ist die Stimmung dank sinnbefreiter Sprüche („Wenn jetzt einer reinkommt!“) wieder super!
Die nächste Steigung hat es in sich. Knapp 1.000 Höhenmeter am Stück schrauben wir uns in den grauen Himmel. Kurbelumdrehung um Kurbelumdrehung kraucht unsere kleine Karawane aus vier Bikern voran, bis schließlich der Schotter endet und der Trail über den Kamm beginnt. Schon nach drei kalten Tagen in ständiger Bewegung fühlen wir uns wie vom Kettenbagger überrolt, doch für ein Zögern ist angesichts der dunklen Wolkentürme keine Zeit. Noch schnell die Radflaschen am Gebirgsbach vollmachen, bevor das Rad geschultert wird und es weiter bergauf geht. Immer enger wird der Durchlass im Fels, der uns auf die andere Bergseite führen soll. Das Bike in der einen Hand, ein Drahtseil in der anderen, balancieren wir mit einem Koloss auf dem Rücken am Abgrund entlang. Allmählich wird das Gelände wieder fahrbar. Schneller als Laufen ist das nicht.

"»Nur noch ein paar Höhenmeterli! Steil ist geil! «, murmelt Daniel gedankenverloren neben mir. Sein Gesicht sagt etwas völlig anderes … "
Winter Transalp im Zelt Gebirgsbach

Diese Nacht verbringen wir nach einem Abstecher über die alte Via Claudia und den Reschen nahe einer entlegenen Zufahrtsstraße zum Nationalpark Schweiz. Dort wundern wir uns über die schwer gepanzerten Mülltonnen, welche wir sonst nur aus Skandinavien kennen. Ein Jäger klärt uns am nächsten Morgen auf: Bären durchstreifen diese Berge. Um Schaulustige zu vermeiden, würde deren Existenz jedoch nicht „an die große Glocke“ gehängt. Interessant, denn schon kurz hinter der italienischen Grenze finden wir an jeder Wegkreuzung ein Bären Infoschild und statt eines Nationalparks ein gerodetes Skigebiet …
Entlohnt werden wir für die Strapazen auf dieser besonderen Transalp immer wieder mit genialen Trails. Beispielsweise, als uns die Route in den Mottolino Bikepark spuckt. Kurzes Zögern: mit dem Körpergewicht eines Dreijährigen auf dem Buckel vom Northshore droppen? Warum eigentlich nicht? In Livigno darf es dann ausnahmsweise der Campingplatz sein, denn der Oktoberregen hat uns wieder eingeholt und das Sanitärgebäude kommt als Besprechungsraum gerade gelegen: Die Gipfel, über die wir gestern kamen, sind in frischem Weiß gepudert. Den Abschnitt über das Rifugio Tridentino zu umfahren, würde bedeuten, auf vielversprechende Trails zu verzichten, und kommt deshalb nicht infrage. Kurze Zeit später schultern wir unsere Bikes auf die ohnehin schwer beladenen Rücken und stapfen durch frischen Schneematsch. Zum Glück ist die winterliche Schiebe Trage Passage nicht allzu lang und dank des Blicks auf den monumentalen Palügletscher schnell vergessen. Wieder in der Schweiz, verzehren wir unser Mittagessen, welches wir zuvor im gefühlt teuersten Supermarkt des Landes eingekauft haben, in einer schäbigen Garageneinfahrt.
Noch halten sich Mensch und Maschine wacker, doch langsam, aber sicher hat die strikte Komfortverweigerung ihre Spuren in unserer Gruppe hinterlassen. Zuerst tut immer der Rücken weh, dann der Hintern und erst dann die Beine … auch diesmal werden unsere Erfahrungswerte bestätigt.

"Genial ist es, jeden Tag aufs Neue ins Ungewisse zu starten. Morgens loszufahren, ohne zu wissen, wo man abends schlafen wird – das ist sicher nicht jedermanns Sache. Für uns ist es pures Abenteuer!"
Winter Transalp im Zelt Fotokabine

Der Oktoberregen hat uns eingeholt - Umziehen in der Fotokabine.

Besonders gefährlich für das Vorankommen sind die Mittagspausen. Entweder kühlt der Körper ohne die Anstrengung viel zu schnell aus, oder die Gemütlichkeit überkommt uns und wir brauchen zwei Stunden, um wieder in den Tritt zu kommen. Täglich werden die Pausen etwas länger und der Geruch etwas strenger. Letzteres scheint kein Problem zu sein, als uns auf einer Abfahrt einige Jugendliche anhalten, um uns mit selbst gebrautem Bier zu beschenken. So voll der Rucksack auch ist – dafür haben wir noch Platz! Für die Nacht schlagen wir unser Lager in einer Apfelplantage auf. Hier im Tal ist es weniger kalt, und die Früchte im morgendlichen Porrage schmecken vorzüglich. Wie früh steht wohl der Bauer auf, um seine Bäume zu spritzen? Besser, wir sind früher weg!
Immer tiefer hinein ins Massiv der Adamello Gruppe führt unsere Route nun. Mal durch sonnige Wälder, mal über leicht angezuckerte Pässe. Das Höhenprofil ist unsere Bibel, welche wir bei jedem Halt hervorziehen, um den Rest des Tages zu planen. Nicht geplant war die riesige Schlammmoräne, die uns hinter der nächsten Kurve die Weiterfahrt verwehrt. Der Regen hat den Hang abrutschen lassen, der Weg ist weggebrochen. Doch mitten im braunen Wall sind kleine Bagger auf Krallenfüßen bereits fleißig dabei aufzuräumen. Als uns die Fahrer bemerken, wird geschwind ein Weg für unsere Reisegruppe gebuddelt. Die Hilfsbereitschaft hier in den Bergen fasziniert uns jedes Mal aufs Neue.

Winter Transalp im Zelt Lärchenwald

Noch ist der Wettergott uns gnädig, und so rollen wir durch den sonnigen Lärchenwald.

"Wie wohlig doch der Moment, wenn beim Stopp das Monster von einem Rucksack kurz auf dem Sattel abliegt. Wie grausam der Moment, wenn das Gesäß wieder auf demselbigen Platz nimmt. "

Die kalte Abfahrt lässt uns spontan in den Überlebensmodus schalten. Aus Bear Grylls Fernsehsendung haben wir gelernt, dass gefrorene Finger durch das kreisförmige Herumwirbeln der Arme wieder mit warmem Blut versorgt werden. Und siehe da – es funktioniert! Der nächste Abschnitt schaut im Höhenprofil nach welligem Dahinrollen aus, ent­puppt sich jedoch als langwierige Kombination aus kurzen, steilen Rampen und unfahrbarem Schwemm­schotter. Das kostet Zeit! Am frühen Nachmittag deshalb die nächste Survival Situation, als wir feststellen, dass wir heute wohl keine Einkaufsmöglichkeit mehr finden. Fernsehwirksam im Totholz nach Asseln wühlen? Zum Glück bleibt uns das erspart, denn im abgelegensten Bergwinkel verkauft uns ein alter Bauer doch noch einen gigantischen Laib selbst gebackenes Brot zum Schnäppchenpreis. Dieser wird an den Rucksack geschnallt und abends vor dem Zelt mit der Notration Nougatcreme (in der gewichtsoptimierten Plastikbox!) verspeist. Das gibt uns die nötige Kraft, um die Heringe mit den Cleats unserer Schuhe in den steinigen Boden zu treiben.

Winter Transalp im Zelt Schieben

Schieben und Tragen gehören auf einer Transalp einfach dazu.

Am nächsten Morgen hat sich auf der Innen- und Außenwand unserer Zelte glitzernder Reif gebildet. Bis alle Habseligkeiten in die Rucksäcke gestopft sind, ist alle kuschelige Schlafsackwärme wieder verflogen. Wochenlang hatten wir unser Equipment in peniblen Tabellen geplant – nicht ein Teil der Ausrüstung, das nicht zigfach in die Hand genommen wird. Die Polster unserer Helme sind vom
Vortag noch klatschnass; und als Fabian stolz verkündet: „Also mein Helm ist knochentrocken“, ist der Galgenhumor zurück. Er hatte seinen Helm noch gar nicht aufgesetzt … Vielleicht sollten wir uns aber, anstatt zu lachen, eher Sorgen machen? Die sogenannte Kälteidiotie ist ein erstes Anzeichen für den Zustand von Erfrierenden.
Die anstehende Abfahrt ist der beste Wachmacher. Dort, wo der lange Spitzkehren Trail auf die Straße mündet, steht ein verlassenes Dixi Klo. Welch wunderbarer Anblick, der zur rechten Zeit kommt und sogar Toilettenpapier bereithält! Die Sonne bricht durch die Wolken, und schon liegt der komplette Inhalt unserer Rucksäcke ausgebreitet in der Parkbucht. Endlich wieder trocken! Als wir abends einen Bauern fragen, ob wir die Zelte auf seiner Wiese aufschlagen dürfen, und dieser uns einen verfallenen Heuschober anbietet, ist unser Glück perfekt – der Anblick unserer gebeutelten Truppe ist wohl stärker als die Sprachbarriere. Auch wenn es hier vor Mäusen nur so wimmelt: Das Bett im getrockneten Gras weckt neue Lebensgeister. Wirklich erstaunlich, wie schnell das Reisen im Gebirge mit Mountainbike und Zelt jedweden Komfort der Zivilisation vergessen macht. Umso beeindruckender das Gefühl, wieder ein WC zu benutzen, unter der Dusche zu stehen oder im Auto völlig ohne Anstrengung die Kilometer dahinfliegen zu sehen.

"Auf vier Grad minus ist das Thermometer letzte Nacht gefallen. Das lässt Zelte und die darin liegenden Biker gefrieren."
Winter Transalp im Zelt Aussicht

Tobi ist der fitteste unserer Truppe, hat bei der Aussicht mit dem Warten aber kein Problem.

Allmählich nähern wir uns dem Ziel unserer Tortur: An der Madonna de Pompei vorbei geht es auf die letzten Kilometer zum Gardasee. Gerade cruisen wir noch einen feinen natürlichen Flowtrail hinunter, da kracht es am Ende unserer Karawane. Ein Stein hat Tobis Schaltauge geköpft und dabei einige Speichen mitgenommen. Gemeinsam wird das Laufrad grob zentriert und der Antrieb auf Singlespeed umgebaut. So kann Tobi die Straße zum Lago nehmen, während wir uns noch die Höhenmeterli am Malga di Tenno und einen verblockten Trail mit Seeblick geben. Doch heute fährt der Defektteufel mit. Die Steinstufen zwingen meine Gabel in die Knie. Die Dämpfung ist futsch und mir bleiben noch haarsträubende zehn Millimeter Federweg. Die Dämpferpumpe („Was das wiegt!“) wurde zum Glück nicht wegrationalisiert und beschert bei maximalem Druck immerhin das Fahrgefühl eines Starr­gabel Fullys. Sieben Tage ohne Gnade für Bikes und Fahrer fordern ihren Tribut. Dennoch erreichen wir den Lago in einem Stück.
Wieder vereint, krönt ein Sprung in den deutlich zu kalten See und ein „Gelato Gigante“ unsere Transalp. Auf dem Campinglatz in Torbole sind wir so platt, dass wir bäuchlings auf der Wiese liegen, statt unsere Zelte aufzubauen. Das bemerken gleich mehrere deutsche Touristen und tauschen (wohl aus Mitleid) Nudelsalat und Starkbier ge­gen einen ausführlichen Reisebericht. Ein Alpencross im Zelt schreibt eben die besten Geschichten!

Winter Transalp im Zelt Palügletscher

Kleiner Biker vor großem Eis. Der Palügletscher bietet eine atemberaubende Kulisse für einen einsamen Trail.

Winter Transalp im Zelt Gardasee

Das Ziel vor Augen: Bläulich schimmernd markiert der Gardasee die Ziellinie vieler Transalp-Routen.

Etappen

Tag 1 Anreise (Zug)
Garmisch-Partenkirchen–Wenns
22 km, 840 Hm, 1 h 45 min
Tag 2 Wenns–Prutz
70 km, 1.570 Hm, 4 h 45 min
Tag 3 Prutz–Scoul
62 km, 1.600 Hm, 4 h 30 min
Tag 4 Scoul–Livigno
62 km, 2.050 Hm, 6 h
Tag 5 Livigno–Tirano
57 km, 1.000 Hm, 4 h
Tag 6 Tirano–Ponte di Legno,
50 km, 2.050 Hm, 4 h 45 min
Tag 7 Ponte di Legno–Madonna di Campiglio
60 km, 2.350 Hm, 6 h
Tag 8 Madonna di Campiglio–Torbole
82 km, 2.400 Hm, 7 h

Summe 465 km, 13.860 Hm
Fahrzeit (netto): 38 h 45 min

Winter Transalp im Zelt Expeditionsteilnehmer

Die Expeditionsteilnehmer von links nach rechts: Fabian, Jan, Tobi und Daniel.

Winter Transalp im Zelt Bergpanorama

Bergpanorama at its best! Da wir auf diesem Alpencross 24/7 draußen sind, entgeht uns kein Naturhighlight.

Tipps für die Transalp im Zelt

• Tag und Nacht mit minimalem Schutz im Gebirge erfordert alpine Erfahrung.
• Wildcampen ist vielerorts verboten. In jedem Fall sollten keine Spuren hinterlassen werden.
• Wenn es auf dem Trail zur Sache geht, behindern sperrige Taschen das Handling des Bikes.
• Jedes Gramm auf dem Rücken zählt. Dennoch sollte an der richtigen Stelle gespart werden.
• Die nächtliche Regeneration fällt bei so viel Minimalismus oft bescheiden aus. Gutes Equipment ist ein Muss.
• Der Rucksack schiebt: Defensives Fahren bringt dich sicher ans Ziel.
• Eine gute Gruppendynamik ist Trumpf. Essen und Galgenhumor halten die Moral hoch.

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